Besuch des Bunraku-Theaters am 16. Januar 2019

Foto: http://www.tsubosaka1300.or.jp/photo_autumn.html
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Im Dezember 2018 machten wir einen Ausflug zum Tsubosaka-dera, Tempel Nr. 6 des Saigoku-Pilgerwegs. Er wird besonders häufig von Menschen mit Augenleiden aufgesucht.

 

Für uns war dies schon Teil der Vorbereitung auf das Januar-Programm des Bunraku-Theaters (Puppenspiel), denn eines der Stücke widmete sich den Aufzeichnungen über Wunder im Tsubosaka-dera.

Silvain Guignard gab uns vor der Vorstellung eine kurze Zusammenfassung der Entwicklung des Bunraku-Theaters und wies auf Besonderheiten der Aufführung hin.

 

Im Anschluss an das Vormittagsprogramm durften wir einen Blick hinter die Bühne werfen, wo uns der Puppenspieler Bunji Yoshida die Kulissen und die Requisiten zeigte und eine Puppe zum Leben erweckte. Bei unseren eigenen Versuchen, die Gliedmaßen der Puppe zu bewegen, scheiterten wir allerdings kläglich.

Geschichte des Bunraku

Bunraku (der Name ist relativ neu und geht auf den Namen eines Puppenspielers aus Awaji zurück) ist ein spezielles Puppenspiel/theater (ayatsuri ningyo), kombiniert mit joruri, einer traditionellen japanischen Erzählmusik, bei der ein tayo zur Begleitung eines shamisen singt.

 

Das japanische Puppentheater hat sich seit seiner Entstehung vielfach verändert. Zeitweise konkurrierten in Osaka mehrere Theater (Takemotoza und Toyotakeza) miteinander. Nach deren Untergang eröffnete erst Ende des 18.Jhs. Bunrakuken Uemura (aus Awaji) ein neues Theater: das BUNRAKU-ZA.

 

Doch auch dieses Theater durchlief schwere Zeiten. Anfang des 19.Jh. brannte es völlig aus. Viele wertvolle Puppen wurden vernichtet. Es gab verschiedene Versuche, dem Theater wieder auf die Beine zu helfen. Mit Hilfe der Stadt Osaka, der Präfektur Osaka und NHK machte das Bunraku-Theater 1963 einen Neuanfang.

 

Das heutige Gebäude stammt von 1984 und hat alles, was ein modernes Theater braucht, wie z.B. Werkstätten, Räume für Requisiten, Kulissen, Garderobenräume sowie ein Restaurant. 2003 wurde Bunraku von der UNESCO in die Liste der immateriellen Kulturgüter aufgenommen.

Besuch hinter der Bühne

Die Puppen selbst sind etwa halb so groß wie Menschen. Puppen in Hauptrollen werden von drei schwarz gekleideten Männern gelenkt. Zwei davon tragen zudem schwarze Kappen. Der Puppenspieler ohne Kappe übernimmt beim Lenken der Puppe die Hauptaufgabe. Er erweckt die Puppe quasi zum Leben. Mit seiner linken Hand hält er die Puppe an einem kurzen Stab unterhalb ihres Kopfes fest und kann mit den Fingern durch das Ziehen bestimmter Schleifen die Mimik der Puppe, z.B. die Bewegungen des Kopfes, der Augen, des Mundes usw. verändern. Mit der rechten Hand bedient er den rechten Arm und die rechte Hand der Puppe. Der zweite Puppenspieler bewegt die linke Hand der Puppe und der dritte Spieler die Beine bzw. bei weiblichen Puppen, die keine Beinen haben, sondern einen Kimono tragen, eben diesen.

 

Puppen in Nebenrollen (wie z.B. die beiden Pilger im „Wunder im Tsubosaka-dera“) werden von nur einem Puppenspieler geführt.

Die Hauptpuppenspieler müssen immer etwas größer als die beiden anderen Spieler sein. Daher stehen für sie hinter der Bühne unterschiedlich hohe getas zur Verfügung.

 

Zu dritt eine Puppe zu steuern, ist extrem schwierig. Die Bewegungsabläufe müssen jahrelang eingeübt werden. Zudem darf der Puppenspieler keinerlei eigene Gefühlsregung zeigen, sondern muss die Gefühle der Puppe durch Bewegungen des Kopfes, der Augen, des Mundes zum Ausdruck bringen. Auch kleinste Bewegungen und Details müssen perfekt sitzen, damit sie realistisch erscheinen. Im Stück meiboku sendaihagi zum Beispiel bereitet die Hauptperson (Masaoko) für Tsurukiyo und Semmatsu Reis zu und in tsubosaka kannon reigenki näht die Hausfrau während der Ehemann die samisen spielt.

 

Zwei weitere wichtige mit dem Puppenspiel verbundene Persönlichkeiten sind der Erzähler und der Shamisen-Spieler. Sie sitzen etwas erhöht rechts von der Bühne, eher dem Zuschauerraum zugewandt

 

Die Aufgabe des Erzählers ist es die richtige Atmosphäre auf der Bühne zu schaffen, in dem er nicht nur aus dem vor ihm liegenden Buch vorliest, sondern den Puppen seine Stimme gibt. Er schreit, weint, schluchzt, wird wütend, traurig. Er lässt, ein etwas gekünsteltes Lachen in Weinen übergehen, wie wir es u.a. in der Rolle der Matsuoka beim Reiskochen erleben konnten. Es muss Schwerstarbeit sein, weshalb Erzähler und Shamisen-Spieler nach jeder Szene wechseln.

 

Die Pulte der Erzähler werden seit Generationen vom Lehrer an ihre Schüler bzw. Nachfolger weitergegeben. Hinter der Bühne war ein ganzes Regal solch wertvoller Pulte zu sehen.

 

Der Shamisen-Spieler begleitet nicht nur den Erzähler und erzeugt Spannung, sondern erzeugt alle möglichen Laute, um Laufen, Rennen, Auffangen von Federbällen beim Spiel der Geisha-Schülerinnen und natürlich auch das Shamisen-Spiel des blinden Ehemanns zu imitieren.

 

Über die Frage, wer denn nun wichtiger im Puppenspiel sei, die Puppenspieler, der Erzähler und der Shamisen-Spieler ließe sich lange diskutieren.

Kurze Zusammenfassung der drei Stücke der Vormittagsvorstellung

1.    Ninin Kamuro (a dance of Two Apprentice Geisha): ein Tanz zweier Geisha-Schülerinnen in einem Vergnügungsviertel, die eine Art asiatisches Badminton spielen. Dieses Spiel wurde früher von Mädchen an Neujahr gespielt.

 

2. Meiboku Sendaihagi (The Trouble in the Date Clan): In diesem Stück geht es um das vollständige Auslöschen eines Clans in Sendai Mitte des 17.Jhs. Im Mittelpunkt steht der Versuch, Tsurukiyo, den Sohn des einstigen Clanoberhaupts, zu ermorden. Der Amme Masaoka gelingt es, Tsurukiyo zu verstecken und so den Fortbestand des Clans vorerst zu sichern, allerdings opfert sie scheinbar ohne Gefühlsregung ihren eigenen Sohn Semmatsu. Doch das täuscht.

 

3. Tsubosaka Kannon Reigenki (The Miracle at the Tsubosaka Kannon Temple): Osato, die Frau des blinden Sawaichi, verlässt seit einiger Zeit noch vor dem Morgengrauen heimlich das Haus, um im nahegelegenen Tsubosaka-dera Kannon anzurufen, damit ihr Mann wieder sehen kann. Der wegen des Verhaltens seiner Frau misstrauisch gewordene Sawaichi lässt sich schließlich von seiner Frau zum Tempel führen, um dort allein zu beten. Da er keine Bürde für seine Frau sein will, stürzt er sich von einer Klippe. Als seine Frau ihren toten Ehemann entdeckt, springt sie hinterher. Doch Kannon kommt zu Hilfe. Sie rettet beide und gibt zudem Sawaichi sein Augenlicht zurück.

 

Gedanken, die wir uns auf dem Nachhauseweg gemacht haben

Als Frau ist man natürlich immer fasziniert und interessiert, wie die weiblichen Rollenvorbilder, scheinbar ideale Figuren mit einer Art Leitbildfunktion gestaltet werden. Für Europäer, oder besser für Christen, ist Maria eine solche starke Vorzeigefrau. Als Gottesmutter ordnet sie sich dem Willen Gottes (und seines Sohnes) gehorsam unter.

 

Ein Gegenbild wäre „Medea“. In der griechischen Tragödie von Euripides lernen wir sie als eine Frau kennen, die sich von ihrem Mann und den Männern zurückgesetzt fühlt und die bereit ist, ihre eigenen Söhne zu ermorden, um sich für erlittenes Unrecht zu rächen.

 

Die Figur Masaoka in dem Stück Meiboku Sendaihagi war insofern eine Überraschung, als sie – eine Mutter wie Maria und Medea - bereit ist, den eigenen Sohn zu opfern aus Treue zu ihrem (toten) Herrn. Sie ist eine Frau, die über mütterliche, über menschliche Gefühle hinweg gehen kann, um den eigenen Clan zu erhalten. Dies zeigt die Stärke der Gruppe, und welche Erwartung die Gruppe hat. Im Puppen-Drama wirkt diese Selbstbeherrschung von Masaoka fast übermenschlich.

 

Anders hingegen die Rolle von Osato. Es ist nicht die Gruppe, sondern ihr Ehemann Sawaichi, dem sie sich unterordnet, für den sie bei Kannon betet und dem sie schließlich in den Selbstmord folgt. Ohne Sawaichi hätte das Leben für sie keinen Sinn mehr.

 

Martina Reiling-Köhler/Viviana Penkhues

Fotos: privat